MONOCLE Magazin, Ausgabe März 2013, Themenschwerpunkt Deutschland
Ich habe die aktuelle Ausgabe des Magazins MONOCLE genau da und genau so gelesen, wie sich Tyler Brûlé, dessen Herausgeber, das wohl immer ausgemalt hat: Mit großer Neugier und viel Zeit, in 10.000 Meter Höhe, auf dem Weg in die asiatischen Zukunftsmärkte und im gemeinsamen Luftraum mit einem Dutzend Abgesandter mittelständischer deutscher Weltmarktführer. Rein oberflächlich betrachtet bin ich sogar der Prototyp des Konsumenten, der in den Marketing-Abteilungen internationaler Luxuswaren-Hersteller und Lifestyle-Anbieter für mancherlei Orgasmus verantwortlich ist – ein Oberzielgruppenführer der MONOCLE-Leserschaft.
Das Heft, 12 €, 206 Seiten, habe ich am Flughafen gekauft. Die Titelgeschichte war zu verlockend, als dass ich auf sie hätte verzichten können. Schon der aufgeklebte gelbe Button mit dem Text ”WHY THE WORLD NEEDS GERMANY” schien mir angesichts des in vielen Teilen der Welt negativ vermerkelten Deutschlandbildes fast von einer versöhnlichen Frivolität zu sein.
Am Vielversprechendsten fand ich die Aufmacher-Geschichte: ”12 Modern Germans”. Unterzeile: „DIE DENKER, KÄMPFER UND MACHER, DIE DIE WELT KENNEN MUSS”.
Ich hatte einen déjà vu – und in der Tat, schon einmal, Mitte der 1960er-Jahre, hatte eine US-Zeitschrift ein neues, modernes Deutschland aufgespürt und es ebenfalls durch Deutsche personifiziert, „die die Welt kennen muss”. Und Arnold Newman, die amerikanische Fotografen-Legende, hatte sie porträtiert. Zum Beispiel den Theologen Helmut Thielicke, den Generalinspekteur der Bundeswehr Ulrich de Maizière (Papa unseres Verteidigungsministers), den Soziologie-Professor Theodor Adorno, den Unternehmer Ferry Porsche, den Physiker und Nobelpreisträger Otto Hahn, den Komponisten Karlheinz Stockhausen oder den Grafiker Otl Aicher (meinen Ex-Chef).
Die begleitenden Texte waren von so außergewöhnlicher Brillanz, dass sie zumindest einigen Amerikanern uns Deutsche tatsächlich wieder näherbrachten – in all unseren Widersprüchen, Fähigkeiten und Abgründen.
Die Frage lautete also: Wen stellt wohl Tyler Brûlé seinen Lesern als Protagonisten des neuen, seit zwei Jahrzehnten wiedervereinigten und in Europa integrierten Deutschlands vor? Wer hat laut Tyler Brûlé in unserer Epoche die Nachfolge der oben genannten Persönlichkeiten angetreten? Wer von uns Deutschen hat das Format, dass die Welt ihn oder sie laut Tyler Brûlé nicht ignorieren darf? Wer sind die Kämpfer, Denker und Macher, die die Welt kennen muss?
Dieses Dutzend:
1. THE CAR DESIGNER Oliver Heilmer
2. THE ARCHITECT Juergen Mayer H
3. THE TV PRESENTER Mitri Sirin
4. THE BRAND PIONEER Caroline Seifert
5. THE ENTREPRENEUR Thomas Andrae
6. THE NEWSPAPER EDITOR Gabor Steingart
7. THE SOLDIER Johanna Pasek
8. THE ARTIST Thomas Demand
9. THE LANGUAGE TEACHER Annegret Steudner
10. THE SCIENTIST John Schellnhuber
11. THE FOOTBALLER Alex Popp
12. THE MUSEUM DIRECTOR Martin Roth
Sofern sie nicht ob dieser Phalanx der Protodeutschen sprachlos geworden ist, kommt der Welt nur ein Wort von den Lippen:
”Who?”
Es kommt noch schlimmer: Die dazugehörigen Texte als Blindtext zu kritisieren käme einer Beleidigung des Blindtextes gleich. Mit Zitaten würde ich mich mitschuldig machen, obwohl ich gerade über die „Markenpionierin” der Deutschen Telekom liebend gerne eine Geschichte schreiben würde, über die Deutschlands Werber sich noch in zehn Jahren kranklachen könnten.
Die Fotos, ambitions- und ideenloses Geknipse von sechs Arbeitsuchenden, zeigen sich in ihrer Beliebigkeit frei und unberührt von jeglicher Art Art Direction.
Und am schlimmsten: Jeder dieser zwölf bedauernswerten Deutschen, auf deren Schultern nun der Fluch lastet, fortan als Superdeutsche von aller Welt gekannt werden zu müssen, musste sich noch zu einer Antwort drängen lassen auf eine Frage, die nicht einmal das thematische Niveau eines Schulaufsatzes der Untersekunda erreicht: ”What is modern Germany's national brand?”
Da stellt sich dann eine ganz andere, noch viel drängendere Frage: Wie tief ist der Journalismus gesunken, wenn wohlwollende Interviewpartner heute ungeniert und ungestraft mit einem solchen hirnrissigen Nonsens belästigt werden dürfen?
Die einzige Erklärung: Man muss Tyler Brûlé heißen und Herausgeber von MONOCLE sein. Dieser Mann braucht offensichtlich dringend ein Debranding.
Wer das Heft dennoch lesen, aber nicht kaufen möchte: Der erste, der sich meldet, bekommt meines geschenkt.
PS: Was wären denn Ihre 12 Deutschen, von denen Sie denken, dass die Welt sie kennen muss? Ein lustiges Party-Spiel. Ab 2,5 Promille aufwärts geht’s garantiert rund. Sollten Sie das Spiel zu fortgeschrittener Stunde mit Kanadiern machen, bitte Tyler Brúlé nicht vergessen! Und auf Platz 1 setzen!
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