„Ich bin auf dem Weg zum Emir″, von Wulff auf den Anrufbeantworter des damaligen Chefredakteurs der BILD-Zeitung gesprochen und vom Literaturkritiker Helmut Karasek kurz darauf dem Genre des Abenteuerromans zugeordnet, entpuppte sich ebenfalls als Sprengsatz. Er leitete Wulffs Rücktritt ein.
„Die MARKE EUROPA ist stark unter Druck″ ist im Vergleich dazu kein Sprengsatz, sondern bestenfalls Ausdruck sprachlicher Verwahrlosung.
Unser Staatsoberhaupt außer Diensten hat die Zeile für eine PR-Aktion der SERVICEPLAN GRUPPE FÜR INNOVATIVE KOMMUNIKATION verfasst. Weitere Textauszüge:
„Das Klima innerhalb der Gesellschaft muss wieder ein anderes, besseres werden, auch die Art der Auseinandersetzung. Ein Weg dorthin ist eine Diskussion um unsere eigene deutsche Identität, um die europäische Identität, um die MARKE EUROPA und was sie uns wert ist. Ob wir sie abwählen wollen oder ob wir sie bewusst wählen, verteidigen, vertreten wollen.″
„Nach dem Terrorangriff auf einen jüdischen Supermarkt in Paris hat der aus Mali stammende Moslem Lassana Bathily, ein Mitarbeiter dieses Lebensmittelmarkts, erklärt, wir – Muslime, Christen, Juden, Atheisten, Humanisten – säßen alle in einem Boot und sollten gegen die Feinde der Freiheit und unserer Art zu leben zusammenstehen. Dieser so grandiose, direkt nach dem Attentat formulierte Appell dieses Supermarkt-Mitarbeiters sollte uns eine Mahnung sein, den Charakter, den MARKENKERN EUROPAS nicht zu verändern.″
„Es sind Ausländer, die uns Deutschen sagen, dass wir gut unterwegs sind, dass wir auf das Erreichte stolz sein können und dass wir erfolgreich sind. Wir stellen 1,2% der Erdbevölkerung, aber manche UNSERER MARKEN haben einen Weltmarktanteil von 70%.″
„Für mich ist der MARKENKERN EUROPAS die Freiheit, die Freiheit der Meinung, der Presse, der Religion, der Religionsausübung, die Freiheit des Gewissens – und das gegenüber jedermann in jeder Phase, egal welcher Religionsgemeinschaft er angehört.″
„Eine SUPER QUALITÄTSMARKE, die verteidigt und wirkungsvoll und offensiv vertreten gehört. Für die Menschen begeistert werden sollten. In die die Menschen das Vertrauen behalten sollten und in die sie verliebt sein sollten. Wir sollten stolz auf die MARKE EUROPA!″
Herr Wulff hat mit seinem Beitrag eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass sein Staatsverständnis inzwischen auf das Niveau mancher Reklamefuzzis abgesunken ist – und die Frage ist unvermeidlich, ob es denn im geistigen Sortiment dieses Supermarkt-Disponenten jemals woanders angesiedelt war.
Folgt man nämlich seiner Logik, ist auch Deutschland bloß noch eine Marke, sind politische Parteien Marken, sind religiöse Gemeinschaften Marken, ist schließlich jeder einzelne eine Marke – und der Gott, an den er angeblich selbst glaubt, wäre letztlich auch nur eine profane Marke unter vielen im Gefeilsche der Lebenssinnanbieter um Marktanteile.
Soll er doch mal bei seinem nächsten Trip nach Saudi-Arabien seinen wahabitischen Freunden stolz verkünden, Allah, Mohammed und Mekka seien jetzt auch endlich Marken – genau wie Coca-Cola, McDonalds oder Camelia. Vermutlich hülfe ihm dann kein Personenschutz mehr, sondern nur noch beten.
Marken sind originäre Instrumente des Wirtschaftswettbewerbs. Sie dienen dazu, Angebote zu markieren, Märkte zu strukturieren, zu erobern oder zu verteidigen, sie zielen auf Wachstum, Expansion und Verdrängung. Eine Marke steht für eine Idee – verankert in individuellen sowie kollektiven Erfahrungen und/oder Erwartungen. Sie hat letzten Endes nur einen Zweck, nämlich den, eine Vorstellungswelt zu bilden, diese zu monopolisieren und zu monetarisieren. Schon deshalb schließt auch die weiteste Auffassung von Marke unser Staatswesen und die ihm eigene Kultur aus.
Wirtschaft wird von Eigennutz getrieben, Demokratien werden von Gemeinnutz zusammengehalten. Wirtschaft muss nicht demokratisch verfasst sein, die meisten Menschen möchten aber nach wie vor, dass der Staat, in dem sie leben, genau das ist. Wirtschaft muss wachsen, Staaten sollten das lieber bleiben lassen.
Politische Ideen und Ideale sind keine Marken, sondern bleiben politische Ideen und Ideale. Man kann für sie werben, kämpfen und demonstrieren, man kann sie wählen und abwählen – kaufen kann man sie jedenfalls nicht. Man kann zwar auch keine Marken kaufen, sondern nur Markenprodukte oder -dienstleistungen, bestenfalls Markenrechte, dennoch ist der Warencharakter als wahrer Charakter nur Marken eigen.
Ist die Bundesrepublik Deutschland also eine Marke? Das Grundgesetz? Die soziale Marktwirtschaft? Die Europäische Union? Nein, das alles sind Gebilde, Werte und Errungenschaften, aber keine Marken. Staaten, in denen die Gesetzte der Markt- und Markenwirtschaft die Grundrechte dominieren, werden zu Recht als Bananenrepubliken bezeichnet.
Einen Staat als Marke zu denken ist pervers. Ganz zu schweigen davon, dass diese Idee nicht einmal neu ist. Den Staat, der teils wie eine Marke gedacht war, gab es schon einmal. Es war der Nationalsozialistische. Die Propagandamittel von dessen Staatsidee sind bis heute verboten. Aber so etwas braucht man als ehemaliger oberster Repräsentant unseres heutigen Staates offenbar nicht zu wissen, und schon gar nicht als ehemaliger.
Mit seiner dümmlichen, neoliberalen Markenrethorik produziert Christian Wulff letztlich genau das, wovor sein Nachfolger Joachim Gauck in seiner am 18. Januar 2017 gehaltenen Abschiedsrede als Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland gewarnt hat:
„In Teilen der Gesellschaft ist ein Anspruchsdenken gewachsen, das den Staat allein als Dienstleister sieht, von dem sie wie Kunden erwarten, dass er ihre Erwartungen und Wünsche möglichst umfassend befriedigt. Doch Demokratie ist kein politisches Versandhaus. Demokratie ist Mitgestaltung am eigenen Schicksal – in der Gemeinde, Stadt, Region, Nation.″
In Kenntnis des Elaborats seines Amtsvorgängers hätte Gauck wohl drei Worte hinzugefügt:
„Und in Europa.″
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